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Das Bildnis des Dorian Gray

August 29, 2011

Manchmal zieht man ein Buch aus dem Regal und fragt sich: Hab ich das schon gelesen? Wann hab ich dieses Buch gekauft? Früher, in Kindertagen, hat man brav vorne in jedes neue Buch seinen Namen und das Datum geschrieben, an dem man es bekommen hat. Dieser Akt dokumentierte nicht nur den Besitzerstolz, sondern hatte auch den praktischen Effekt, dass Menschen, die sich das Buch vielleicht einmal leihen würden, daran erinnert werden sollten, wem es gehört. Und da man auch als Zehnjähriger schon ahnte, dass es böse Menschen gibt, die die beweisvernichtende Kraft eines Radiergummis zu nutzen wissen, krakelte man seinen Namen mit einem Kugelschreiber auf die Rückseite des Covers.
Heute, mit einem quasi libidinösen Verhältnis zu Büchern, hält man Kugelschreiber ja für Teufelswerkzeuge, die in die Nähe von Büchern zu bringen mit Höllenqualen nicht unter drei Jahren bestraft gehört. Also beantworte ich mir die eingangs genannten Fragen mit einem hauchdünnen Bleistifteintrag etwa dieser Art: „7/2011“ und gleich darunter „8/2011“. Ein Name tut nicht not, denn eigentlich verleiht man keine Bücher mehr. Dem Eingeweihten sagt der numerische Eintrag: Dieses Buch gelangte im Juli 2011 in meinen Besitz, gelesen wurde es bis August 2011. So in etwa wäre es in einer der besseren der möglichen Welten, die Wirklichkeit ist trostloser: So fand ich neulich zu meinem nicht geringen Grausen in meiner Ausgabe des Dorian Gray den fühllosen Eintrag „1/1998“, mehr nicht.  Dreizehneinhalb Jahre schon stand das berühmte Werk also ungelesen bei mir rum. Ich denke, ich gebe Jane Austen schuld, deren Romane bei mir seit einigen Jahren die Abteilung englische Literatur fast vollständig okkupiert haben. Da ich neulich jedoch die aktuelle Verfilmung des Dorian Gray gesehen habe, wurde es höchste Zeit, sich das Buch mal vorzunehmen. Die Gelegenheit brachte der aktuelle Urlaub, der auch die maßlose Länge dieser Vorrede wo nicht entschuldigt, so doch erklärt.
Die Geschichte des Dorian Gray, darauf ist schon hingewiesen worden, ähnelt sehr der des Dr. Faust. Der schöne Dorian verliebt sich in seine Schönheit und Jugend, die das Gemälde, das ein befreundeter Maler von ihm pinselt, in voller Pracht entfaltet. In einem Moment größter Ehrlichkeit spricht Dorian das leise Gebet, das Bild, nicht er möge altern. Und so geschieht es. Angeleitet von seinem zynischen Freund Lord Henry (der moderne Mephisto) will Dorian das Leben mit allen Sinnen genießen, einem neuen Hedonismus huldigen, der sich über Moral und Gesetz souverän hinwegsetzt. Absolut alles ist erlaubt, was den Genuss ins unermessliche steigert – dafür verkauft Dorian Gray seine Seele. Wie sowas endet, ist ja klar, soviel Moral propagiert schließlich selbst ein Oscar Wilde.
Als das Buch 1890/91 erschien, löste es im prüden spätviktorianischen Zeitalter einen Skandal aus, obwohl wenig passiert, was man in anderen Schauergeschichten nicht schon gelesen hatte. Vermutlich störten sich die feinen Leser vor allem an Lord Henrys radikalen Thesen, die der Gesellschaft des endenwollenden 19. Jahrhunderts einen Spiegel vorhielten, der recht unerfreuliche Anblicke produzierte. Lord Henry hat vielleicht öfter ins Schwarze getroffen, als es vielen Lesern lieb war. Ich fand seine Thesen auf Dauer, bei aller Eloquenz, trotzdem etwas ermüdend. Manches wiederholt sich etwas zu oft. Und Mr. Gray muss schon ebenso narzisstisch veranlagt wie dumm sein, um den Zyniker nicht zu durchschauen. Er hätte nur mal kurz bei Kant nachschlagen müssen: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das reicht schon, die endlos vielen Seiten zur Begründung dieses kategorischen Imperativs konnte Mr. Gray sich sparen, ein wenig gesunder Menschenverstand genügen zum Verständnis. 
Doch der Schönling will genießen und geht dabei über Leichen. Viele Dialoge funkeln, manche Diskussionen sind sehr interessant, am besten haben mir aber die vielen Aphorismen gefallen, die hie und da eingestreut werden. Einige kannte ich schon – ohne zu wissen, dass sie von Wilde und aus diesem Buch stammen. Die Handlung entwickelt sich derweil mit einigen Längen erwartbar, neben den Faust darf man auch gerne (und vielleicht noch mehr)  an Dr. Jekyll und Mr. Hyde denken. Ziemlich schlecht kommen übrigens die Frauen weg, warum auch immer. Interessant wäre es sicher, zu untersuchen, inwiefern Wilde Autobiographisches  verarbeitet hat – doch dafür weiß ich zu wenig über sein Leben. Also ein leidlich spannendes Buch mit interessanten psychologischen Aspekten und vielen Bonmots, würde ich sagen, wobei das irgendwie zu negativ klingt. 
Nun aber die Verfilmung von Oliver Parker. Hauptdarsteller Ben Barnes ist mir bisher nicht groß aufgefallen, Colin Firth (Lord Henry) ist aber natürlich nicht erst seit The King’s Speech ein kleiner Riese auf der Leinwand. Hier spielt er allerdings so hölzern, als wolle er am liebsten in jeder Szene ein Schild über dem Kopf halten: Wie unendlich leid bin ich die Rolle des britische Adeligen! Auch viele Nebenrollen fand ich gut besetzt. Viel gemacht hat der Regisseur aber auch daraus nicht. Von den Geistesweiten des Buches bleibt wenig übrig, stattdessen spult Parker eine Schauermär ab, die er unbillig mit diversen Sexszenen und einem Gemälde garniert, das endlich selbst lebendig wird und mit albernem Stöhnen die Bosheit einer verderbten Seele zu vertonen versucht. Vielleicht ein Zugeständnis an die Effektheischerei des modernen Horrorfilms, von Wildes eher subtilem Grauen ist dafür leider nichts mehr zu spüren. 
Und dann hat Mr. Parker sich auch noch Freiheiten erlaubt, die die Kurbelwelle in Wildes Grab in Gang gesetzt haben dürften: Er erfindet eine Tochter Lord Henrys, in die sich Dorian unsterblich verliebt – für ihn eine Chance auf Erlösung, die Liebe holt das Gute in ihm wieder hervor. Und auch für Lord Henry, der weiß, was er aus Dorian gemacht hat, ist das der Wendepunkt: dieser Teufel in Menschengestalt soll seine geliebte Tochter nicht in die unnatürlich schönen Finger kriegen! Lehrer und Schüler zeigen Skrupel, das soll dem Finale des Films die offensichtlich nötige Dramatik verleihen. Mit dem Buch hat das fast nichts zu tun, dort entlarvt Dorian Gray seinen scheinbaren Drang, am Ende doch etwas Gutes zu tun, selbstzerstörerisch (aber sicher zutreffend) als pure Eitelkeit – sein Kernübel verlässt ihn halt nie.
Immerhin ist der Film professionell gemacht, über weite Strecken versucht er anscheinend wenigstens, dem Buch in modernisierter Form gerecht zu werden, nur funktioniert hat das für mich jedenfalls nicht.

From → Bücher, Filme

2 Kommentare
  1. Julia permalink

    Meines Wissens war das Buch vorallem auch wegen der homosexuellen Untertöne ein „Skandal“. Habe das Buch (als Teenie) erstmals mit großer Begeisterung gelesen, beim zweiten Mal vor ein paar Jahren ging es mir dann ähnlich wie Dir: Die vordergründig geistreichen Dialoge und Aphorismen fand ich etwas zu selbstverliebt um wirklich unterhaltend zu sein.
    Kennst Du Wildes Theaterstücke?

    • Ja, die homosexuellen Untertöne sind natürlich auch recht deutlich – damals sicher auch oder so gar noch skandalträchtiger als die verderbte Moral und die Kritik am Establishment.
      Gelesen habe ich die Theaterstücke noch nicht – nur zwei Verfilmungen gesehen: Ein perfekter Ehemann und Ernst sein ist alles. Fand ich beide ganz heiter.

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