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Verstand und Gefühl (Sense and Sensibility) / Von Jane Austen

Juli 21, 2012

Sense & Sensibility ist der erste Roman, den Jane Austen veröffentlicht hat. Die erste Fassung hat sie offenbar bereits 1795, also mit kaum 20 Jahren, unter dem Titel Elinor und Marianne in Form eines Briefromans geschrieben, so wie es damals durchaus noch üblich war. Zwei Jahre später arbeitete sie die Geschichte zu einem normalen Roman um, möglicherweise, weil sich die Story in Briefform doch nicht optimal erzählen ließ. 1809 überarbeitete sie das Manuskript noch einmal, nicht zuletzt fügte sie einige Aktualisierungen ein. Im Oktober oder November 1811 kam Sense & Sensibility schließlich auf den Markt. Als Autorenname wurde „By a Lady“ angegeben. Der Verleger traute dem Buch keinen großen Erfolg zu, deshalb musste Austen die Herstellungskosten in Höhe von bis zu 150 Pfund (damals war das sehr viel Geld, Jane Austen hatte für ihre privaten Bedürfnisse pro Jahr 20 Pfund zur Verfügung) selbst aufbringen (vermutlich lieh ihr Bruder Henry ihr das Geld). Der Deal war, dass die Autorin im Gegenzug die Einnahmen aus dem Verkauf einstrich, der Verleger wurde daran prozentual beteiligt. Das Buch erschien in einer dreibändigen Ausgabe für 15 Shilling, was damals auch eher viel war, die erste Auflage umfasste höchstens 1000 Bücher. Es gab zwei lobende Kritiken, den Rest besorgte die Mundpropaganda: Sense & Sensibility wurde ein Verkaufserfolg, die Auflage war nach 20 Monaten ausverkauft, Austen verdiente 140 Pfund. Zu ihren Lebzeiten erschien nur noch eine weitere Auflage, das Buch wurde aber bereits 1815 ins Französische übersetzt. Von einem Bestseller kann trotzdem keine Rede sein – aber der Erfolg war enorm wichtig, denn wer weiß, vielleicht hätte es Austen nach einem fatalen finanziellen Fehlschlag nicht gewagt, noch einmal ein Buch herauszubringen?

Erzählt wird die Geschichte der beiden Dashwood-Schwestern Elinor und Marianne. Das Thema wird durch den Titel vorgegeben, es geht um Verstand und Gefühl, ober um besonnenes, korrektes Verhalten auf der einen, Empfindsamkeit und Schwärmerei (Romantisiererei) auf der anderen Seite. Die anfangs 16-jährige Marianne glaubt an die einzig wahre Liebe, sie stellt höchste Ansprüche an Aussehen, Geschmack und Tugenden ihres Künftigen. Als sie ihren Traummann in dem famosen John Willoughby zu finden glaubt, zeigen sich die Kehrseiten ihrer überhöhten Vorstellungen: Sie idealisiert Willoughby, wird blind für seine Schwächen und setzt sich durchaus egoistisch und rücksichtslos über die (gesellschaftlichen) Bedürfnisse und Ansprüche ihrer Mitmenschen hinweg. Ihr Glück ist alles, alles muss sich ihrem Glück unterordnen. Dass sie dabei auch bereit ist, verknöcherte Konventionen zu durchbrechen, zeigt das radikale Potenzial ihres Verhaltens. Zumindest aus heutiger Sicht wirkt vieles, was sie tut, frei, selbstbewusst und erfrischend. Zumal Austen ihr schlimme Nebenfiguren gegenüberstellt, die die ganze Inhaltsleere dieser Konventionen repräsentieren: etwa die Middletons, Mrs. Ferrars oder John und Fanny Dashwood. Dennoch steht Marianne nicht einfach für Sensibility, sie ist durchaus gebildet, hat guten Geschmack und weiß im Grunde sehr wohl, was sich schickt. Marianne liebt Bücher – allein dieser Umstand sichert ihr in der Austen-Welt die Sympathie der Autorin und vieler Leser. Es kommt halt nur darauf an, was man so liest. Und damit wird Marianne zu einer entfernten Verwandten von Catherine Morland aus Northanger Abbey, deren Leidenschaft für Schauerromane (die Marianne kaum lesen würde) sie auch auf manche Abwege führt.

Elinor dagegen wirkt so vernünftig, dass ich zumindest immer wieder vergesse, dass auch ihr im Buch die leidenschaftlichsten Gefühle zugesprochen werden – sie schafft es nur ständig, diese Gefühle zu kontrollieren. Aus Besonnenheit, weil sie vernünftig ist, vor allem aber aus einem tiefempfundenen Pflichtgefühl (man könnte auch sagen sozialer Verantwortung) ihren Mitmenschen gegenüber. Irgendwie wirkt sie immer wieder so, als würde sie sich ständig um einen Job als Gouvernante bewerben. Aber letztlich widerstreiten Vernunft und Gefühl nicht nur zwischen Elinor und Marianne, sondern auch in beiden, der Konflikt spielt sich also auf zwei Ebenen ab, wobei die Hauptpersonen unterschiedliche Wege finden, damit umzugehen.

Das Thema war nicht neu. Ende des 18. Jahrhunderts erschienen einige Romane bekannter Autorinnen und zahlreiche Essays und Zeitschriftenartikel, die sich mit Verstand versus Gefühl befassten. In England gab es philosophische Linien, die das Gefühl über die kalte Rationalität erhoben. Und natürlich kannte man auch Rousseaus Lobgesänge auf das natürlich Gute im Menschen. Selbst den Titel Sense & Sensibility hat Austen aus einem Essay von 1799 geklaut. In ihren Jugendwerken (etwa Liebe und Freundschaft, wo es in anderen Rollen auch eine Marianne und einen Edward gibt) hat sich Austen auch schon mit den dramatischen Folgen übertriebener Schwärmerei befasst. Originell war das also nicht gerade, was Austen da thematisiert. Nur wie sie es macht, ist grandios. Richtig los geht das eigentlich erst im zweiten Kapitel, nachdem im ersten Kapitel die Verwandtschafts- und Erbschaftsverhältnisse der Dashwoods einigermaßen umständlich runtergeleiert werden. Mrs. Dashwood und ihre drei Töchter sind demnach von der Freundlichkeit eines Dashwood-Sohns aus früherer Ehe abhängig. In Kapitel 2 gibt es einen inzwischen berühmten Dialog zwischen John und Fanny Dashwood, in dem sie ihm Schritt für Schritt klarmacht, dass seine Stiefschwestern eigentlich gar kein Geld brauchen, höchstens mal ein Stück Wild. Schon dieser Dialog ist ein Meisterstück, im Buch folgen aber natürlich noch viele wunderbare Szenen und Gespräche. Es fehlt auch nicht an karikierten Nebenfiguren, die gnadenlos vorgeführt werden. Und bei allem schwingt immer, hier ist Austen eigentlich nicht so weit von Marianne entfernt, die Kritik an dummem und gedankenlosem Verhalten mit. Lady Middleton sagt wenig, was ein Segen ist (ihr Gegenstück ist Lady Bertram aus Mansfield Park), Mrs. Ferrars ist wie Lady Catherine de Bourgh aus Pride & Prejudice ein reiches, herzloses Biest. Mrs. Palmer ist so unvernünftig wie Mr. Palmer gefühllos ist. Und Mrs. Jennings plappert ohne Unterlass, meistens dummes Zeug, nie kapiert sie, was wirklich passiert, bewährt sich aber immerhin als helfende Freundin in der Not.

Christian Grawe hat darauf hingewiesen, dass Sense & Sensibility „das mutigste und enthüllendste Buch Jane Austens, ihre gnadenloseste Darstellung von gewissen sozialen Sünden ist“. Tatsächlich geht es nicht nur immer mal wieder um Geld, von dem alles abhängt, sondern es wimmelt auch nur so von schrecklichen Ereignissen: Da werden Männer zur Verlobung verführt (na gut, nicht soo grauenvoll, aber wenn man Lucy Steele kennt, ahnt man die Schrecken eines Verlöbnisses mit ihr), junge Mädchen geschändet und schwanger im Stich gelassen, andere zur Ehe mit lieblosen Männern gepresst, so dass sie am Ende in tiefer Verzweiflung im Armenhaus dahinsiechen, beinahe geschieht ein Mord (Duelle galten damals als Mord, wenn einer umkam) und der Oberschurke heiratet nur aus Geldgier, nachdem er die liebreizende Marianne beinahe in den Tod getrieben hat. Klingt fast wie aus einem Schauerroman, ist aber Austen, weshalb viele Leser die Duellszene gar nicht bemerken, die grauenvollen Geschichten werden nur berichtet und als Marianne fast stirbt, kann man sich köstlich über den trotteligen Apotheker amüsieren. Trotzdem ist gerade die Krankenszene wohl die intensivste, die Austen je geschrieben hat, finde ich jedenfalls –  sie ist übrigens meisterhaft in der Verfilmung von Ang Lee umgesetzt.

Sense & Sensibility ist ein ausgezeichnetes Buch, dennoch gibt es nicht viele Leser, die es als Austens bestes bezeichnen würden. Oder gar als ihr Lieblingsbuch. Ein paar Schwächen hat es allerdings. Mal abgesehen vom drögen Einstieg: Die männlichen Helden schwächeln ziemlich. Oberst Brandon kriegt die Zähne kaum auseinander, er mimt den Trauerkloß, der seiner verflossenen Jugendliebe hinterherweint (manche Frauen finden das tatsächlich romantisch…), himmelt mit seinen 35 Jahren die minderjährige Marianne an (gut, das war damals nicht so verwerflich wie heute), in der er offenbar vor allem ein Abbild eben jener Dahingeschiedenen sieht (welche Frau würde das schmeichelhaft finden?) und ist ansonsten den größten Teil des Romans sowieso einfach nicht da. Zu Elinor hätte der Tugendbold bestens gepasst.

Deren Liebster, Edward, zeichnet sich nun vor allem durch verdruckste Schüchternheit, Sprachlosigkeit und Planlosigkeit aus. Ihm fällt nichts Besseres ein, als Pfarrer zu werden –  seine Mutter findet das zweifelhaft, das ist der einzige Punkt, in dem man ihr mal zustimmen kann. Am Ende kriegt er sein Pfarrhaus und ist glückselig, auch wenn die Kuhweide etwas besser sein könnte (erinnert irgendwie an Voltaires Candide, der schließlich auch nur seinen Garten bestellt, aber das ist vielleicht etwas weit hergeholt, aber vielleicht auch doch nicht). Manche Leser halten ihn geradezu für schwächlich. Aber mit Elinor vereint ihn das gewaltige Pflichtgefühl, dafür trotzt er immerhin allen familiären Widerständen, weshalb er praktisch sein gesamtes Erbe verliert. Aber er ist halt ein Gentleman, der tut, was er tun muss. Schwach ist das sicher nicht. Aber sein Schwärmpotenzial tendiert doch gegen Null.

Auch das Ende überzeugt nicht so ganz, mich jedenfalls nicht. Gut, Elinor kriegt Edward, sie leben bis ans Ende ihrer Tage glücklich und bescheiden im Pfarrhaus. Aber dass Brandon und Marianne heiraten, dass sie mit der Zeit ihn lieben lernt, heiß und inniglich – das deucht mir doch arg zurechtgekloppt auf den letzten Metern. Die Ehe ist eigentlich nur notwendig, um Mariannes Entwicklung abzuschließen: Die Romantikerin heiratet ohne Liebe den Fast-Rheumatiker, um zu lernen, dass die große romantische Liebe ein Trugbild ist, dass das Ideal, wie immer bei Austen, die vernünftige Liebe ist, die sich auch mal nach dem Kirchengebimmel einstellen kann. Überhaupt Marianne: Dem armen Kind wird übel mitgespielt von Austen, am Ende ist sie komplett gebrochen, ihr einziges Ziel, so wirkt es, ist das Leben einer frommen Klosterschülerin (dann doch lieber im Bett mit Brandon). Klar übertreibt sie mal wieder, auch das zeigt ja der weitere Verlauf, aber wahr ist: Die herzerfrischende Marianne von Kapitel 1 wird nach Kapitel 50 auf Delaford hocken, sich von Brandon bespaßen lassen (oje), huldvoll residieren, gelegentlich die Pfarrersfrau empfangen und dabei peinlich genau die Anstandsregeln beachten. Und dafür musste sie die Katharsis einer fast tödlichen Krankheit (ausgelöst durch nasse Strümpfe, dafür mag ich Austen) über sich ergehen lassen, im Grunde tut sie Buße, um auf den stoisch-moralisch-christlichen Kurs ihrer Schwester einzuschwenken. Das bringt mich auf meine wichtigste Kritik an dem Buch: es ist mir zu pädagogisch. Viel zu offensichtlich führt Austen vor, was falsches Verhalten ist, und viel zu offensichtlich wird dieses Verhalten bestraft. Ich sehe immer wieder den Hütihüti-Zeigefinger, den Elinor bis zur Selbstaufgabe verkörpert. Subtil ist das nicht. Bei Northanger Abbey ist es ähnlich, doch dort wird die Pädagogik durch Witz und Satire gemildert, bzw. dort geht es nicht um ein Lehrstück, sondern um eine Parodie von Schauerromanen. Schlimmer ist eigentlich nur der zutiefst konservative Grundton von Mansfield Park, aber da gefällt mir Sense & Sensibility deutlich besser.

Wenn man mit kritischen Bemerkungen aufhört, klingt das immer so, als ob das Buch einem unterm Strich nicht gefallen habe. Also das stimmt nicht, um das noch mal zu betonen: Sense & Sensibility ist ein sehr guter Roman mit vielen großartigen Stellen, geradezu kriminalistischen Einfällen – und all den anderen genialen Elementen, die Jane Austen halt immer auszeichnen.

From → Bücher, Jane Austen

3 Kommentare
  1. Im Großen und Ganzen stimme ich dir zu. Aber ich habe den Ausgang des Romans immer als … realistisch empfunden. Manches hat mich sogar etwas frustriert, denn wie im wahren Leben werden die „Bösen“ nicht bestraft (Dreistigkeit und Habgier siegen), die Guten finden zwar ihr „Happy End“ – aber nur in dem Maße, das sie benötigen (die Pfarre von Elinor und Edward), Willoughby bedauert seine falschen Entscheidungen noch immer, würde sie aber trotzdem nicht anders getroffen haben und überhaupt bleibt eigentlich alles beim Alten, nur dass die Protagonisten nun eben verheiratet sind. Die Heirat Mariannes fand ich zwar zu kurz abgehandelt, aber nachvollziehbar. Sie steht einfach auf Romantik, Literatur und Musik – und Brandon ist da perfekt für sie. 😀 Manchmal braucht man eben länger, bis man auf den Trichter kommt. Für mich war Marianne auch nie gebrochen. Dieses Gefühl entsteht vielleicht, weil die Dialoge lediglich kurz nach der Krankheit geschildert werden, als der Eindruck, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein und fortan „vernünftig“ zu handeln noch besonders stark bei ihr sein müssen. Wie sie sich später garantiert wieder eingekriegt hat, wird ja nicht erzählt.
    Mehr gestört hat mich, dass Margaret eigentlich eine völlig überflüssige Figur ist und leider viel zu blass. Eigentlich schade drum, weil sie eine von wenigen Kinder-Figuren ist, die Austen überhaupt in ihren Büchern etwas näher charakterisiert.

  2. Du meinst, Marianne findet zurück zu ihrer romantisch-natürlichen Unbefangenheit und Leichtsinnigkeit? Kann sein. Dass sie „gebrochen“ wird, heißt aber ja nicht, dass sie jetzt ein schlechterer oder langweiligerer Mensch ist. Sie macht einen brutalen Lernprozess durch. Mir war das vielleicht etwas zu brutal – und das Ende dann ein wenig gewollt. Austen pädagogisiert hier etwas viel, aber das war ja in den Romanen des späten 18. Jh. durchaus üblich. Übrigens sagt Brandon dazu auch etwas in Kapitel 11:“… trotzdem liegt etwas so Liebenswürdiges in den Vorurteilen eines jungen Menschen, dass man sie mit Bedauern vor der allgemeinen Meinung kapitulieren sieht.“
    Und ja, Margaret ist eine der ganz wenigen Figuren, bei denen man sagen könnte, sie ist bei Austen überflüssig. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn sie die Figur weiter entwickelt hätte – aber wozu? Da sie nichts Wesentliches zur Handlung beiträgt, wäre das nur Ballast…..

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