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Emma / Von Jane Austen

Dezember 28, 2013

Jane Austen hat Emma zwischen dem 21. Januar 1814 und dem 29. März 1815 geschrieben, veröffentlicht wurde der Roman in drei Bänden im Dezember 1815. Eigentlich sollte der Roman erst im neuen Jahr erscheinen, deshalb steht auf der Erstauflage 1816. Ihr Verleger bot Austen für Emma und die Rechte an Mansfield Park und Sense & Sensibility 450 Pfund – zu wenig, fand die Autorin, die schon drei Romane (Sense & Sensibility, Pride & Prejudice und Mansfield Park) mit mehr finanziellem Erfolg veröffentlicht hatte. Am Ende ließ sie Emma auf eigene Kosten drucken, der Verleger erhielt 10 Prozent vom Gewinn. Von der Erstauflage (2000 Stück) wurden innerhalb eines Jahres 1250 Stück verkauft. Die zweite Auflage erschien erst 1833. Befördert wurde der relative Verkaufserfolg vermutlich durch die Widmung für den Prinzregenten (dem späteren König Georg IV), zu der Austen mehr oder weniger genötigt wurde: Der königliche Bibliothekar teilte ihr mit, sie dürfe eine Widmung verfassen, weil es am Hofe neben dem Regenten viele Bewunderer ihrer Bücher gebe – ein Angebot, das man nicht ablehnen durfte. Die ersten Kritiken waren überwiegend positiv, berühmt wurde die von Walter Scott, der insbesondere ihren Realismus und die Figurenzeichnung lobte. Die Literaturkritik zählt Emma zu den drei Romanen der „reifen“ Schaffensphase Austens, in der sie auch Mansfield Park und Persuasion verfasste. Bis heute gibt es nicht wenige Kritiker, die jenseits von Vorlieben etwa für das schillernde Pride & Prejudice der Ansicht sind, dass Emma Jane Austens bester Roman sei. Es heißt, er sei einer der ersten modernen Romane überhaupt.

Das Buch ist tatsächlich außergewöhnlich. Austen soll ihren Verwandten erzählt haben, dass wohl niemand ihre Heldin so mögen würde, wie sie es tue. Emma macht es vielen Lesern nicht leicht. Im ersten Satz des Romans heißt es:

„Schön, aufgeweckt und reich, bei einem sorgenfreien Zuhause und einem glücklichen Naturell war Emma Woodhouse offenbar mit einigen der erfreulichsten Vorzüge des Daseins gesegnet und hatte beinahe einundzwanzig Jahre fast ohne jeden Anlass zu Kummer und Verdruss auf dieser Welt verbracht.“

Der Satz gibt nicht unbedingt die Meinung der Autorin wieder, sondern beschreibt vor allem Emmas eigene Sicht auf ihr Leben. Wobei in dem kleinen Wort „offenbar“ schon die Ironie versteckt ist, die wie so oft bei Austen den ganzen Roman durchzieht. Ein wichtiges Thema des Romans ist Emmas Entwicklungsprozess – bis zum Ende wird sie viele Male „Anlass zu Kummer und Verdruss“ haben, bevor sie schließlich erkennt, dass es nicht reicht, „schön, aufgeweckt und reich“ zu sein, jedenfalls nicht, wenn man mit seinen Vorzügen nichts Gescheites anzufangen weiß. Der Roman dreht sich fast ausschließlich um seine Titelheldin, die Geschichte wird auch beinahe vollständig aus Emmas Sicht erzählt. Im wichtigsten Handlungsstrang geht es darum, dass Emma versucht, ihrer Freundin Harriet Smith den richtigen Mann zu beschaffen. Sie versucht sich mit großem Vergnügen als Ehestifterin. Dass Harriet offenbar von unehelicher Geburt und mittellos ist, ficht sie nicht an: Vom hochstrebenden Pastor bis zum reichen Gentleman kommt jeder Mann für Harriet in Frage, der Emma ohne jedes Indiz eine Lebensgeschichte andichtet, die das Mädchen zum Kind reicher oder adeliger Eltern macht.

Emma polarisiert. Es gibt, wie von Austen vorhergesehen, viele Leser, die sie nicht mögen. Sie ist arrogant, hochnäsig, voller Standesdünkel, manipulativ und jederzeit bereit, durch kleine Tricks und Unwahrheiten die Dinge so zu lenken, wie es ihr gefällt. Leicht gerät man in Gefahr, sich von Sympathie oder Antipathie für Emma ablenken zu lassen von der großartig konstruierten Geschichte. Austen provoziert diesen Effekt durch den Einsatz stilistischer Mittel, die den Leser geradezu dazu zwingen, sich mit Vorzügen und Defiziten der Protagonistin zu befassen. Dies erreicht sie vor allem durch den Einsatz der freien indirekten Rede: In keinem der früheren Romane ist der Leser so dicht verwoben in die Gedankenwelt der Heldin, nirgendwo kann man so genau nachempfinden, was sie glaubt und fühlt. Das fängt schon bei dem ersten Satz des Romans an und setzt sich praktisch bis zur letzten Seite fort. Selbst in der vermeintlich hochromantischen Antragsszene, in der Mr. Knightley seine Liebe in vielen Sätzen gestehen darf (was bei Austen eher ungewöhnlich ist), erfährt der Leser vor allem, welche wenig romantischen Gedanken durch Emmas Kopf jagen, bevor sie halt sagt, was sich für eine Dame gehört, wie Austen lapidar feststellt, ohne Näheres zu verraten. Diese Technik führt dazu, dass man immer sehr stark mit Emma mitfühlt, man versteht sie und erkennt, dass sie bei allem Unsinn, den sie verzapft, nie eine böse Absicht hegt. Diese Nähe erzeugt Sympathie, die immer wieder gebrochen wird durch Emmas Handlungen, die so leichtfertig sind, dass sie beinahe das Lebensglück einer Freundin zerstören.  Hinzu kommt die bei Austen allgegenwärtige Ironie, mit der sie nicht zuletzt Emma immer wieder vorführt: Noch während man den Kopf schüttelt über so viel Unreife und Unfug, amüsiert man sich darüber, wie Emma eigentlich stets zum Opfer ihrer eigenen Ränkespiele wird.

Hinzu  kommt, dass die Autorin uns von Anfang an erklärt, warum Emma so ein Prinzesschen geworden ist: Sie ist zu gut behütet in reichen Verhältnissen aufgewachsen, ohne Mutter, mit einem viel zu nachsichtigen Vater und einer liebenswürdigen, aber durchsetzungsschwachen Erzieherin, und wird zudem von (fast) allen Nachbarn bewundert und stets gelobt. Außerdem hat sie Hartfield nie verlassen, jedenfalls ist sie nie weiter als sieben Meilen entfernt gekommen. Verwöhnt und begrenzt auf ihre eigene, kleine Welt, in der ihre Familie das höchste Ansehen genießt, musste sie zur Selbstüberschätzung neigen. Ohne besondere Anregungen von außen (und leider auch lesefaul), aber mit großer Fantasie ausgestattet, liegt es nahe, dass Emma sich daran macht, das Leben der Menschen in ihrer Umgebung beeinflussen zu wollen – als Ehestifterin. Austen beschreibt Emma als „Imaginist“, manche Kommentatoren interpretieren sie als Schriftstellerin, weil sie mit ihren Mitmenschen verfährt wie mit Romanfiguren. Die feministische Interpretation könnte sein, dass sie als kluge Frau in einer männlich dominierten Gesellschaft Mittel und Wege sucht (und findet), ihre Interessen/Pläne durchzusetzen. Der Haken ist, dass sie dabei glücklicherweise scheitert. Jedenfalls hindern ihre Umgebung und ihre Erziehung Emma daran, ihre Urteilsfähigkeit zu entwickeln und zu genügend Selbsterkenntnis zu gelangen (allerdings deutet sie ihre eigenen Gefühle trotz mancher Schwankungen bemerkenswert gut). Doch dass sie ein gutes Herz hat, zeigt Austen immer wieder in den Szenen, in denen Emmas Selbstlosigkeit in Bezug auf ihren anstrengend-hypochondrischen Vater deutlich wird.

Emma ist keine perfekte Heldin. Austen setzt sie damit wohltuend von vielen edlen Fräuleins ab, die durch die Romane ihrer Zeit schritten. In einem Brief an eine Nichte hat sich Austen ausdrücklich gegen perfekte Heldinnen ausgesprochen, weil sie unrealistisch und fad sind. Fast zu perfekt ist ihr dagegen die männliche Hauptfigur geraten: Mr. Knightley ist der Prototyp des englischen Gentlemans. Stets ehrlich, aufrecht, pflichtbewusst, geradeheraus, dabei mit viel Empfindsamkeit ausgestattet, ohne je seine Gefühle zur Schau zu stellen. Er steht in seiner Ritterlichkeit und als sich stets um Gemeinde und Pächter kümmernder Landeigentümer im Grunde für das gute alte England, während der Hallodri Frank Chruchill das eher suspekte Französische verkörpert, was Mr. Knightley einmal sehr direkt auf den Punkt bringt. Emma wurde 1815 abgeschlossen: Wenn man will, kann man hier den bei Austen oft vermissten Bezug zur politischen und sozialen Wirklichkeit entdecken, die von den napoleonischen Kriegen geprägt war. Der Austen-Übersetzer Christian Grawe hält Austens Plädoyer für das Englische sogar für ein zentrales Thema des Romans. Ich bin mir da nicht so sicher, zumal Frank Churchill am Ende  keineswegs zu negativ rüberkommt (was auch viel zu platt wäre). Aber Mr. Knightley, das stimmt, hat immer Recht. Sein auch durch Lesen (Menschen, die viel lesen, sind in Austens Welt immer gute Menschen) erworbenes Urteilsvermögen ist grandios, auch wenn er sich mal ein wenig von seiner Eifersucht beeinflussen lässt. Und er ist der einzige, der keine Scheu hat, Emma auf ihre Fehler hinzuweisen, was ihn irgendwie ziemlich pädagogisierend wirken lässt. Er ist gut 16 Jahre älter als Emma, hat sie aufwachsen sehen – manche sagen, er sei wie ein großer Bruder, oder wie der Vater, den Emma eigentlich hätte haben sollen.

Doch es ist nicht allein die schillernde Hauptfigur, die Emma zu einem so guten Roman macht. Das ganze Buch ist ein einziges, unglaublich kunstvoll entwickeltes Rätsel. Wie gut das gemacht ist, erschließt sich dem Leser erst beim wiederholten Lesen: Nur wenn man die Auflösung der verwickelten Geschichte kennt, kann man erkennen, wie raffiniert Austen den Plot aufgebaut hat – und sich über die zahllosen kleinen Hinweise freuen, die in jedem Kapitel versteckt sind. Das macht Emma nicht nur zu einem Entwicklungsroman, bei dem man beobachten kann, wie die Hauptfigur erwachsen wird, sondern geradezu zu einem Krimi allererster Güte. Dass der Leser durch den Einsatz der freien indirekten Rede so nah bei Emma ist, die jedoch stets falsch liegt, ist einer der Kunstgriffe, mit denen Austen den Leser permanent in die Irre führt. Doch nicht nur Emma ist blind (und mit ihr der Leser), sondern fast alle Figuren deuten fast alle Ereignisse falsch. Und nicht nur sie versucht, andere zu manipulieren. Die gute Mrs. Weston ist in Ansätzen auch dabei, ganz offensiv aber mischt sich Mrs. Elton in das Leben von Jane Fairfax ein. Deren heimlicher Verlobter wiederum der größte Rätselschmied ist, ihm gelingt es mühelos, selbst die blitzgescheite Emma hinters Licht zu führen. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass Emma stets in alle Ehepläne verwickelt ist: Mr. Elton will sie, nicht Harriet haben; Frank Churchill will gar nicht sie (wie Emma anfangs eitel glaubt), und auch nicht Harriet (wie Emma hofft), sondern Jane heiraten; und Harriet soll bitte nicht Mr. Knightley heiraten, weil den dann doch Emma haben will. Im Buch wimmelt es zudem von Geheimnissen und tatsächlichen Rätselspielen (das Klavier für Jane Fairfax, ihre Spaziergänge zur Post, Mr. Eltons komische Verse, das Buchstabenspiel, das Wortspiel auf Box Hill…), die auf das große Rätselthema verweisen. Auch die Figurenzeichnung gibt Hinweise: Mrs. Elton ist das verzerrte Spiegelbild von Emma – der Leser kann, indem er Mrs. Elton beobachtet, auch einiges über Emma lernen. Lustigerweise kommt Emma selbst jedoch nie auf diese Idee, obwohl die Indizien ziemlich eindeutig sind.

Austens Handlungsführung, die Entwicklung des Plots, ist einer der Gründe, warum der Roman seiner Zeit so weit voraus ist – daran kann auch die etwas eigentümliche Jane-Frank-Story wenig ändern. Hinzu kommt der souveräne Einsatz der literarischen Stilmittel, der von Literaturkritikern immer wieder bewundert wird. Den Vorwurf, Emma sei zu sehr begrenzt auf einen kleinen Handlungsort, an dem außerdem praktisch nichts Dramatisches passiert, hat schon Walter Scott in seiner Rezension pariert: Wer so genau und realistisch Figuren zum Leben erwecken kann, hat hochnotdramatische Ereignisse gar nicht nötig. Austen lässt nur einmal ein paar Vagabunden eine Lady in Not bringen – das wirkt fast ein wenig befremdlich. Die Szene hat jedoch eine wichtige Funktion, bei näherer Betrachtung zeigt sich zudem, dass die Gefahr nicht ansatzweise so groß war, wie es der Dame erschien, weshalb die Szene mehr über sie als über die Bedrohung durch die Fremden aussagt.

Neben der bewundernswerten Handlungsführung ist es Austen gelungen, ein paar prächtige Romanfiguren zu entwickeln. Da ist natürlich Emma, aber fast interessanter sind Mrs. Elton und die grandiose Miss Bates. Bei beiden perfektioniert Austen ihre oft eingesetzte Technik, Figuren durch direkte Rede zu charakterisieren. Mrs. Eltons Monolog beim Erdbeerpflücken steht dem ewigen Geschnatter von Miss Bates in nichts nach. Wobei Miss Bates immerhin oft Informationen in ihrem Redefluss versteckt, deren Bedeutung man erst beim zweiten Lesen erkennt. In gewisser Weise drehen sich große Teile der Handlung um Miss Bates. In ihrer kleinen Wohnung treffen sich viele Leute, hier wird einiges beredet, was für das Verständnis des Romans wichtig ist. Und der Umgang mit Miss Bates ist ein Maßstab für Emmas Entwicklung (ähnlich wie Emmas sich veränderndes Verhältnis zu Jane Fairfax).

Emma ist ein großartiger Roman. Seine Genialität hat sich mir erst beim Wiederlesen, darüber reden und Sekundärliteratur durchsehen zumindest ansatzweise erschlossen. Vieles, was Austen bereits in Pride & Prejudice entwickelt hat, hat sie in Emma perfektioniert. Pride & Prejudice hat mehr Anhänger als Emma. Das könnte auch daran liegen, dass in Pride & Prejudice das vermeintlich romantische Element viel offensichtlicher ist: Ziemlich schnell ist klar, dass es auch darum geht, ob sich Elizabeth Bennet und Mr. Darcy kriegen. In Emma spielt das „Matchmaking“ zwar eine große Rolle, aber eben beim ersten Lesen nicht in Bezug auf die Hauptfiguren: Man braucht ziemlich lange, um sich darüber im Klaren zu werden, ob Mr. Knightley nun nur freundschaftliche oder doch schon erotische Gefühle für Emma hegt. Beruhigend ist immerhin, dass selbst Mr. Knightley das offensichtlich auch eine ganze Weile nicht so genau weiß.

From → Bücher, Jane Austen

2 Kommentare
  1. Eine tolle Rezension! Da Austens Romane so modern wirken, wird oft übersehen, welche Meisterleistung es in dieser Zeit war. Lieben Gruß, Peggy

    • Vielen Dank! Ja, sie wird leider immer noch zu oft als Verfasserin harmloser Liebesgeschichten verkannt. Aber immerhin wird sie nach 200 Jahren immer noch viel gelesen, das ist das Wichtigste. 😉

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